Full text: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Bd. 68 = 2.F. 32 (1919))

4

v. Schwind,

ausgehend, abweichende und immer stärker abweichende Fälle
sich neben einander reihen, die alle doch noch im Rahmen
des gleichen Rechtsgebildes Raum finden wollen. Je mehr
man sich diesen Grenzfällen nähert, eine um so größere An-
passungsfähigkeit wird nötig, soll der einmal formulierte
Rechtsbegriff noch anwendbar bleiben.
Mir scheint nun, als wollte sich in der heutigen Rechts-
dogmatik — gewiß nicht zu ihrem Vorteil —. ein allzu
theoretisierender Zug breit machen, in dem konstruktive
Gelüste oft wahre Orgien feiern, ohne irgendwie unsere
Erkenntnis zu vertiefen oder für bessere Entscheidungen den
Boden zu ebnen.
Auch unsere Lehre von Schuld und Haftung ist von
einer solchen Behandlung nicht frei geblieben, und leicht
könnte sich ergeben, daß der gute Kern dieser Lehre in
Mißkredit gerate durch Einwendungen, die sich in Wahrheit
nur gegen die Form der Behandlung, nicht gegen
ihren Inhalt richten. Dazu ist mir die Lehre zu gut.
Die Einwendungen, die ich gegen so manche juristische
Konstruktionen der Gegenwart — hier speziell im Zusammen-
hang mit der Grundfrage des Obligationenrechts — geltend
machen möchte, gehen von folgenden Ueberlegungen aus.
Die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des Lebens läßt be-
kanntlich eine restlose Einordnung in Kategorien nicht zu.
Scharfe Grenzen sind dem Leben fremd. Jst's nun vielleicht
unerläßlich, daß die Rechtsordnung scharfe Begriffe und
Kategorien aufstellt, so ist es damit ebenso unvermeidlich,
daß damit Schwierigkeiten und Unebenheiten entstehen: neben
den an Zahl und Bedeutung meist weit überwiegenden Fällen,
die in die Schablone passen, liegen dann noch Grenzfälle,
die sich von der Regel immer mehr entfernen, die sich nur mehr
mit gewissen Aenderungen und Umdeutungen, — uneigent-

Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.

powered by Goobi viewer