Full text: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Bd. 68 = 2.F. 32 (1919))

Schuld und Haftung im geltenden Rechte.

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Die Zeiten sind zum Glück längst vorbei, in denen
juristische Untersuchungen alles Schwergewicht auf die Frage
gelegt, in welche rechtliche Kategorie die verschiedenen Er-
scheinungen des Rechtslebens einzureihen sind. Dafür hat
einst in Rom der Formularprozeß, und bei uns auf deutschem
Boden die Rezeption des fremden Rechts den unmittelbaren
Anlaß gegeben, weil es sich dabei überall darum handelte,
den Ansprüchen und Erscheinungen des Lebens rechtliche
Anerkennung dadurch zu sichern, daß sie in irgendeine der
„unwandelbar feststehenden" Kategorien der Rechtsordnung
hineingefügt und, wenn's not tat, hineingepreßt wurden.
Rechtsentwicklung und Rechtsanpassung war dabei im weiten
Umfange auf die Hilfe der Interpretation gewiesen, die dieser
großen Aufgabe in glänzender Weise gerecht wurde — was
freilich in vielen Fällen nur dadurch möglich war, daß sie
selbst dabei an Kühnheit oft nichts zu wünschen übrig ließ.
Für die Rechtsdogmatik unserer Zeit entfällt dieser
äußere Zwang, und so fehlt es ihr auch um so mehr an
dem Anlasse zu solchem Vorgehen, je mehr die neueren Ge-
setzbücher ihren Inhalt und ihre Form dem Leben und seinen
Bedürfnissen angepaßt haben. So ist an die Stelle des
Kategorisierens, in dem einst der juristischen Weisheit höchster
Schluß gelegen war, das schlichte, einfache Bestreben nach
Erfassung des Inhaltes der einzelnen Rechtsnormen und der
einzelnen Rechtsinstitute getreten. Aber den Gefahren einer
etwas unnatürlichen, gewaltsamen, vielleicht sogar gewalt-
tätigen Konstruktion ist dabei unsere Rechtsdogmatik gleich-
wohl nicht entrückt. Dabei scheint mir, daß die Quelle dieser
Gefahr häustg in den Grenzfällen liegt. Wie im Leben ver-
mittelnde Uebergänge die Gegensätze meist überbrücken, so
kann man auch in den Rechtsinstituten wiederholt die Er-
scheinung beobachten, daß, von irgendwelchen Normalfällen

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