Full text: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen (Bd. 3 (1869))

216 von Mittelstaedt: Die Form der Mündlichkeit und Schriftlichkeit
ihr gemachten Auflage vollständig erkennt. Aus der ersten Anforderung
ergiebt sich die Nothwendigkeit der Zulässigkeit der Berufung gegen das
Beweisurtheil, aus der zweiten die Nothwendigkeit der Begründung desselben.
Nach dem Standpunkte des gegenwärtigen Aufsatzes ist es die
Aufgabe der Prozeßgesetzgebung, das Leben an Stelle der tobten Formel
in den Prozeß einzuführen. Wenn.es wahr ist, daß die Trennung der
Behauptungen und der Beweise eine Abstraktion ist, die dem Leben
widerspricht, so muß der gegenwärtige Aufsatz die Zerschneidung des
Prozesses in ein Stadium der Behauptungen und ein Stadium der Be-
weise als eine lebensgefährliche Sektion des Prozesses verdammen. Und
wenn es ferner wahr ist, daß sowohl die Feststellung des Beweisthema,
als die Vertheilung der Beweislast der lebendigen Beurtheilung des
Fakti widerspricht, so darf der gegenwärtige Aufsatz das Beweisurtheil
überhaupt nicht anerkennen. Diese Sätze sind also vorab zu prüfen.
Es ist wahr, daß zwischen Behauptungen und Beweisen ein. natür-
licher und so naher Zusammenhang besteht, daß die Grenze Beider häu-
fig unsichtbar ist; es ist auch wahr, daß die Trennung dieses natürlichen
Zusammenhanges dem Leben widerspricht und, wie die Zulassung des
künstlichen Beweises zeigt, selbst vom Gemeinen Rechte als unmöglich
anerkannt ist. Wie sollte beispielsweise die Partei alle dem Sachver-
ständigen-Gutachten zu Grunde zu legenden, vielleicht aus dem sachver-
ständigen Augenschein erst hervorgehenden faktischen Verhältnisse im
Voraus bestimmen können? Man könnte von diesem Gesichtspunkte
aus dahin gelangen, die Gliederung des Prozesses überhaupt zu ver-
werfen, den ganzen Prozeß als ein ungetheiltes, zur Sammlung des
Materials bestimmtes Verfahren anzufehen und dem entscheidenden
Richter die Entwickelung des Urtheils aus dem ohne bestimmtes Ziel
gesammelten Material zu überweisen. Diese Methode, welche im roma-
nischen Prozesse anerkannt ist, muß zu einer Ungewißheit dsr Parteien
über das, was im Prozesse erheblich ist, folgeweise zu abwegigen Ver-
handlungen und zu endloser Verschleppung des Prozesses führen.
Es entspricht nicht dem Grundsätze der vollständigen Information
des Richters, daß man die Partei darüber im Zweifel läßt, welche In-
formation dem Richter werthvoll sei. Man sage auch nicht, daß die
Partei, namentlich der rechtsverständige Anwalt, selbst wissen muß,
worauf es ankommt. Die Partei kann sehr klug sein, kann sehr genau
wissen, worauf es in dem Prozesse ankommt; es kann ihr jede Auf-
klärung durch den Richter vollständig entbehrlich sein, wenn es eben
auf ihr Urtheil ankäwe, nicht auf das Urtheit des Richters, welches sich
häufig jeder Berechnung selbst des gebildetsten und scharfsinnigsten An-
waltes vollständig entzieht.
1. Wir betrachten zunächst die Feststellung des tberna proban-
dum in dem Beweisuriheile, also die Frage: inwieweit das Be-
weisurtheil, welches dem Prozesse eine bestimmte Richtung
zu geben bestimmt ist, die Scheidung der Behauptungen von
den Beweisen vornehmen soll?
Wir stehen zwischen zwei Gefahren: Wenn die Abschließung des
Hauptverfahrens durch das Beweisurtheil hermetisch dicht ist, so erscheint

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