Full text: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen (Bd. 3 (1869))

und das sogenannte Prinzip der Mündlichkeit.

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Wahren, das Material schnell und vollständig zu schaffen, dem Richter
die Möglichkeit, das wirkliche Recht aus demselben zu entwickeln. Das
Prozeßgefetz kann dem Richter den Boden für Erfüllung
seiner Pflicht, der gerechten Partei den Boden für Geltend-
machung ihres Rechtes bereiten, und dadurch die Findung
des wirklichen Rechtes auf dem kürzesten Wege ermöglichen.
Den Rest darf es dem guten Willen des Richters und dem Interesse
der Partei überlassen.
Wenn nun ein vollständiges Streitmaterial auf dem kürzesten Wege
geschaffen ist, so bedarf es, bevor der Richter in seine Funktion treten
kann, noch einer ferneren Thätigkeit der Parteien wie des Richters,
nämlich der Uebergabe des Streitmaterials Seitens der Partei und der
Annahme desselben Seitens des Richters. Der Zweck dieses Aktes ist
die möglichst vollständige und sichere Information des Rich-
ters, eine unerläßliche Bedingung für die Erreichung des
Zweckes des Prozesses. Wie kann das Prozeßgefetz auf die richtige
Ausführung dieses Aktes wirken?
Die Fähigkeit und den guten Willen des Richters und der Par-
teien kann das Prozeßgesetz nicht schaffen, aber es kann die Möglichkeit
der Vollständigkeit und Klarheit des Vortrages, die Möglichkeit der
Vermeidung sedes Mißverständnisses, die Möglichkeit der Abweisung
absichtlicher Verwirrung, die Möglichkeit der Unbefangenheit des
Richters garantiren, und dadurch die Möglichkeit einer vollständigen
Information des Richters Herstellen. Und Alles dies hofft man von
der Mündlichkeit, die als Heilmittel gegen alle Schäden des Prozesses
dienen soll, und die mit anderen gerühmten Heilmitteln das Eine
gemein hat, daß sie gerade von Denjenigen, denen ihre Bedeutung recht
verborgen ist, am meisten gepriesen und am verkehrtesten angewandt wird.
Sicher ist der Werth der Mündlichkeit nicht zu unterschätzen. Die
Sprache ist das natürliche Mittel zur Kundgebung der Gedanken,
welches keine Schrift ersetzen kann. Wie oft klärt eine Unterredung
die durch langen schriftlichen Verkehr scheinbar unauflöslich gehäuften
Mißverständnisse auf. Und wenn die Wohlthat der Sprache für jeden
Verkehr der Menschen von großer Bedeutung ist, so ist sie es nicht
minder für den Verkehr der im Prozesse mit einander handelnden Per-
sonen. Aber die Mündlichkeit ist gleichwohl nur eine Form; der Name
„Prinzip" kommt ihr nicht zu. Freilich wird sich der stereotyp ge-
wordene Ausdruck „Prinzip der Mündlichkeit" und werden sich
die Bücher, die von dem „Prinzip der Mündlichkeit" handeln,
nicht mit der einfachen Behauptung eines Mißverständnisses oder Jrr-
thumes widerlegen lassen; ja solche Methode der Widerlegung könnte
unseren Kredit sogar gefährden. Der Name „Prinzip der Mündlichkeit"
greift weit über den Begriff der mündlichen Form hinaus. Der Ge-
danke, welcher diesem Namen zu Grunde liegt ist folgender: Der
Grundsatz, dessen Verwirklichung die Form der Mündlichkeit anstrebt,
ist der Grundsatz einer unverfälschten, vollständigen, sicheren'Information
des Richters. Dieser Grundsatz ist freilich für den ganzen Prozeß von
großer Bedeutung, denn Alles, was im Prozesse verhandelt wird, drängt

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