materiellen Einflüssen solcher Art gehören aber theils fieber¬
hafte Zufälle und Parorysmen in Folge physischer Krank¬
heiten, theils der Genuß besonders nachtheiliger hitziger Ge¬
tränke oder hitziger Getränke überhaupt bei besondrer Irrita¬
bilität des Nervensystems, theils auch eigenthümliche, das
menschliche Gefühl überwältigende und zu den heftigen Affec¬
ten des Schreckes, der Wuth, der Verzweiflung u. s. w.
hinreißende äußere Erscheinungen. Es kommen die Fälle vor,
daß entweder vom Parorysmus Befallene oder durch geisti¬
ges Getränk ungewöhnlich Aufgeregte oder durch plötzliche
Schreckensscenen in Verzweiflung Gestürzte ungeachtet ihrer
geistigen Ohnmacht Handlungen begehen, welche der Gegen¬
stand crimineller Untersuchung werden. Bei diesen Fällen
ereignet es sich nicht selten, daß die Inculpaten hartnäckig
betheuren, es sey ihnen von dem, was sie in jenen Mo-
menten des blinden Tobens geredet und gethan, auch nicht
das Geringste bewußt, sie seyen in jenen Momenten aller
Besinnung beraubt gewesen. Hier fragt es sich nun, da,
wenn jene Betheuerung wirklich auf der Wahrheit beruhete,
eine Bestrafung jedenfalls den ersten Grundsätzen der strafen¬
den Gerechtigkeit widersprechen würde: ist in solchen Fällen
die Zuerkennung eines assertorischen Eides (wohl auch Er¬
füllungseid genannt, z. B. bei Quistorp, Winckler,
Püttmann, Biener) zur Constatirung der betheuerten
Bewußtlosigkeit zuläßig oder nicht?
Die Beantwortung dieser Frage ist nur bei genauerer
Betrachtung der Natur eines solchen Eides möglich. Vor
allen Dingen nun ist nicht zu bestreiten, daß dieser Eid von
einem gegenwärtig (und gewöhnlich) vollkommen geistesge¬
sunden, seiner selbst mächtigen und sich wohlbewußten Men¬
schen geleistet wird. Daß dieser Mensch aber in einem ver¬
gangenen Momente einmal des geistig gesunden Selbstbewußt¬
seyns für kurze Zeit beraubt gewesen ist, kann ihn zur Ei¬
desleistung nicht unfähig machen. Denn dann dürfte viel¬
leicht die größte Hälfte der ganzen Menschheit nie schwören,
da es ja schon das Kanonische Recht für nöthig fand als
allgemeine Vorschrift hinzustellen: ne quis, nisi jejunus,
juret. (S. c. 16. C. 22. qu. 5.)" Das erforderliche Judi¬
cium also oder die geistige Sicherheit in Betreff des zu Be¬
schwörenden, das völlige Bewußtseyn des schwörenden Sub¬
jectes, oder, wie Böhmer a. a. O. sagt; „ut rem, de
qua jurat, et vim juramenti cognitam habeat, dies ist
ebensogut, wie bei jedem Andern, vorhanden; nur muß frei¬
lich über den gegenwärtig vollig gesunden Zustand des Schwö¬
renden aller Zweifel gehoben seyn, wie sich von selbst ver¬
Max-Planck-Institut für
308
steht. Ist dies aber der Fall, so kann ein solcher Schwö¬
render vernünftigerweise weit eher einen gründlichen, keines¬
weges frevelhaften Eid leisten, als etwa ein Erbe in die
Seele seines Erblassers oder ein Vormund für seine Mündel
u. s. w. Denn in der That ist das vollkommenste Bewußt¬
seyn dessen möglich, daß man sich in einem verwichenen
Augenblicke der Ohnmacht oder eines ähnlichen Zustandes in
völliger Bewußtlosigkeit befand, daß man Alles, was man
in jenem Augenblicke gethan, ohne Bewußtseyn, ohne Frei¬
heit gethan, daß man deshalb denn auch aller Erinnerung
an das Gethane beraubt sey. Es gibt sogar wirkliche Wähn¬
sinnige, denen in gesunden Momenten das vollkommenste
Bewußtseyn ihres Krankheitszustandes, obschon keinesweges
die Erinnerung an ihre einzeln begangenen Extravaganzen,
beiwohnt. Wenn man nun behauptet, es fehle zu obigem
Eide an der nöthigen geistigen Besonnenheit, hat man da
nicht offenbar zwei nach Zeit und Eigenschaft ganz verschie¬
dene Zustände mit einander vermischt? Ist nicht wirklich das
erste Requisit des Eides, Judicium, hier vorhanden?
Man sagt aber, es sey unstatthaft und unschicklich, daß
jemand beschwöre, er sey wahnsinnig. Dieser Einwurf, der
die Justitia des Eides treffen würde, beruht auf einer logi¬
schen Erschleichung. Denn keinesweges wird beschworen,
daß man wahnsinnig sey, sondern lediglich das Factum,
daß man das für verbrecherisch Erklärte ohne alles Bewußt¬
seyn und ohne alle Willensfreiheit gethan habe, wird eidlich
erhärtet, und dieses ist der Vernunft ebensowenig zuwider,
als jede andre eidliche Erklärung über die innere Qualität einer
in juridischen Betracht kommenden Handlung, z. B. bei
einer Kaufsverabredung u. s. w. Ebensowenig kann man
gegen die Statthaftigkeit des oft erwähnten Eides anführen,
daß, wie Biener (Syst. proc. jud. tom. I. §. 99. not.
6.) sagt, wenigstens nach Sächsischem Rechte, de igno¬
rantia in der Regel nicht geschworen werden könne. Denn
einmal bezieht sich diese Regel zunächst nur auf den Civil¬
proceß, sodann wird auch in gegenwärtigem Falle keineswe¬
ges de ignorantia, sondern in der That über eine positive
Scienlia in Betreff der Qualität jener Umstände und Hand¬
lungen geschworen. Und obschon in dieser Qualität ein ne¬
gatives Element liegt, so kann dies doch um so weniger der
Statthaftigkeit des Eides nachtheilig seyn, als der so häufig
vorkommende Reinigungseid seiner ganzen Natur nach ja
durchaus negativ ist. So würde denn endlich auch der Ein¬
wurf, daß in einem solchen Eide die eigne Exculpation des
Inculpaten ausgesprochen werde, gänzlich verschwinden, da