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die Begierden, sie nährt die Leidenschaften, und gleicht
einem verzehrenden Feuer. Der Zweck, den man sich vor¬
setzt, bestimmt auch die Mittel. So wie sie nicht mehr
die sittliche Ordnung anerkennt, deren Gesetze die goͤttliche
Weisheit tief in unser Gewissen eingegraben hat, so tritt
sie auch die bürgerliche Ordnung mit Füßen, welche die
Weisheit zum allgemeinen Wohl der Menschheit einge=
führt hat. Jn diesem unglücklichen Zustande achtet der
Mensch nicht mehr weder Anstand noch Sitte; er sucht
selbst Gott seinen unsinnigen Begierden dienstbar zu ma=
chen. Nichts mehr bleibt ihm heilig, nichts ist vor ihm
gesichert; in ihm selbst ist der Keim alles Uebels ver¬
schlossen. Mit kleinen Vergehen fängt er an; und bald
durchläuft er unaufhaltsam alle Stufen des Verbrechens,
bis er endlich, auf der letzten angekommen, sich als Mör¬
der zum Schafot schleppen sieht, um den Lohn seiner
Greuelthaten zu empfangen.
Zwei Dinge sind es, welche die Gefahren einer übel
geleiteten Einbildungskraft noch vermehren; nehmlich das
Lesen der Romane, weil sie uns die Welt malen, wie sie
nicht ist; und der unmäßige Genuß der geistigen Ge¬
tränke, weil sie das Blut erhitzen, die Vernunft irre lei¬
ten und die Verirrungen einer ungeregelten Einbildungs¬
kraft begünstigen.
Jch war, wie ich erwähnt habe, von meiner frühe=
sten Jugend an, mit dieser gefährlichen Seelenkraft be=
gabt. Die seltsamen Mährchen, die ich zu erfinden liebte,
die Mannigfaltigkeit und die ausschweifende Weise mei=
ner Knabenspiele, legten vielfache Zeugnisse hiervon ab.
Die ersten sieben Jahre meines Lebens verflossen
mir unter der Leitung meiner Mutter, einer sehr from¬
men, in der Einfalt und Sittenstrenge unserer Vorältern
oae
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zu Berlin