Anz. üb. Schüz's Grundsätze der National=Oekonomie.
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ker sei als die Fähigkeit, die Lebensmittel im eigenen Lande zu vermehren. Doch sei
eine Vermehrung der Bevölkerung über die äußerste, durch das Maß der Cristenz¬
mittel gezogene Gränze hinaus, jenseits welcher Noth und Verderben hereinbricht
und die Bevölkerung sich wieder mindert, keine Nothwendigkeit, sondern nur
eine Möglichkeit; die Noth kann vermindert werden durch verständige Ent¬
haltsamkeit.
In der Politik ist nach unserer Ansicht ein Drittes beachtenswerth, das
zwischen Nothwendigkeit und Möglichkeit die Mitte hält: die Wahrscheinlich¬
keit — da dem vorausrechnenden und vorbereitenden Staatsmanne einerseits mit
der bloßen Möglichkeit nicht gedient, andererseits aber in politischen Sachen selten
gegönnt ist, mit Gewißheit in die Zukunft zu sehen Halten wir den Blick, der aus
gegenwärtigen Thatsachen kommende Ereignisse herauslesen will, gleichmäßig frei
von dem Mißbehagen und der Einschüchterungslust des drohenden Mahners, wie von
der Schwäche der leichtfertigen Berubigung, und wir müssen uns gestehen, daß die
altcultivirten Staaten Europas, wenn nicht die Natur oder Völkerkämpfe mit ih en
großen schmerzlichen Amputationen eingreifen, mit hoher Mahrscheinlichkeit einer
solchen Vermehrung der Volksmenge näher rücken, welche Calamitäten mancher
Art über dieselben bringen dürfte, nämlich einer unverhältn smäßigen Vermehrung
der ärmeren Classen. Auf die Vorsicht bei Eingehung von Ehen, auf die Ent¬
haltsamkeit in der Ehe, wegen Furcht vor Mangel an Eristenzmitteln oder wegen
wirklichen Mangels, auf die Zunahme der Sterblichkeit, namentlich der Kinder
worauf der Verfasser als Aus leichungsmittel hinweist — ist hier nicht viel zu
bauen Schon Smith sagt (1. Seite 133): „Armuth schreckt allerdings vom
Heirathen ab, aber sie verhindert es nicht schlechterdings. Sie scheint sogar das
Kinderzeugen zu befördern. Eine halb verhungerte Bergschottin wird oft Mutter von
mehr als zwanzig (?) Kindern, indeß die wohlgenährte und überzärtlich verpflegte
Dame unvermögend ist, ein einziges zur Welt zu bringen, und höchstens durch
zwei oder drei Niederkunften schon erschöpft ist. Unfruchtbarkeit, eine bei dem weib¬
lichen Geschlechte in den vornehmen Ständen so gemeine Sache, ist in den unteren
beinahe gänzlich unbekannt? Ist auch diese Behauptung etwas schottisch derb aus¬
gesprochen und einer frühern Zeitperiode entnommen, so umschließt sie doch eine
bleibende Wahrheit Betrachten wir aber die Gegenwart, sie bietet in ihren Erschei¬
nungen andere zahlreiche Stützpunkte für unsere Ansicht Die hauptsächlichsten sind
folgende: Vorsicht bei Eingehung von Ehen und Enthaltsamkeit in der Ehe wird
gegenwärtig weit mehr bei den mittleren und höhern Ständen, als bei den unteren
angetroffen; die zahlreichen und wohleingerichteten Humanitäts=Ansalten unserer
Zeit schwächen bedeutend jene Furcht vor Mangel an Existenzmitteln und Unterbrin¬
gung der Kinder, die Erinnerung an dieselben nährt insbesondere den Leichtsinn im
außerehelichen Umgange; der fortwährend steigende außereheliche Zuwachs der
Bevölkerung rührt auch thatsächlich zumeist von der ärmeren Classe ber; die fort¬
schreitende Verbesserung und Zertheilung der schon bestehenden Humanitäts=Anstal¬
ten, vorzüglich aber die Gründung neuer, meistentheils durch den wohlthätigen
Sinn der Privaten, wie Kinderbewahranstalten, Kinderspitäler u dgl, wirken der
größeren Sterblichkeit der armen Kinder entgegen, ohne ihnen jedoch künftiges Un¬
terkommen und zureichenden Erwerb verbürgen zu können; die fortwährende Be¬
gründung neuer Fabriks=Etablissements auf dem Lande bildet nun auch hier eine
Bevölkerung aus, die von der Hand in den Mund lebt, und sich mit ihrer Lebens¬
freude auf wenig mehr als auf die Geschlecht verschiedenheit angewiesen fühlt. Es
ist ein unter den ärmeren Classen in deutschen Ländern sehr gangbares Sprichwort
Wem Gott gibt ein Haas'l, dem gibt er auch ein Gras'l, — und, so weit wir die
Menschen kennen, dürfte es auch in anderen Ländern an Sprüchen nicht fehlen
welche Trost und Entschuldigung im Leichtsinne gewähren. Der Name „Proletarier“
scheint also grammatikalisch und praktisch richtig zu sein. Schlägt man nun zu die¬
Max-Planck-Institut für