Full text: Psychologie. ¬Die Lehre von dem Erkenntnißvermögen (Th. 1)

Aufmerksamkeit. Vollkommenheiten derselben. § 28. 
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stande lebhafter Vorstellungen ist der Mensch nichts weniger, als geeignet, das 
Wahre vom Falschen auszuscheiden und die Momente, die beweisen und nicht 
beweisen, auseinander zu halten. Daß alle Gleichnisse hinken, (omne si¬ 
mile claudicat) begreift sich aus dem Gesagten von selbst. 
2. 
Hinsichtlich der Vollkommenheiten der Aufmerksamkeit. 
§ 28. 
Kein Vermögen ist einer größern Vervollkommnung, aber auch keines 
einer 
größern Vernachlässigung fähig, als die Aufmerksamkeit. Merkwürdige Bei¬ 
spiele von einer sehr großen Ausbildung der Aufmerksamkeit haben wir an meh¬ 
reren Mathematikern, die, wie Archimedes und Euler, selbst in dem störend¬ 
sten Geräusche ihre Forschungen ungehindert fortsetzten. Der berühmte Haller 
konnte zur selbigen Zeit in einem Buche lesen und dabei Karten spielen, und 
Julius Cäsar konnte, während er Briefe las, mehreren Schreibern Briefe 
dictiren. Selbst in Beziehung auf solche Gegenstände, die den Sinnen abwesend 
sind, zeigt sich oft eine fast unglaubliche Energie der Aufmerksamkeit und des 
durch sie geleiteten Anschauungsvermögens. So spielte ein Herr Harrwitz aus 
Breslau, öffentlichen Nachrichten zufolge, am 23. December 1850 in London 
auf einmal drei Parthien Schachspiel blind: die erste Parthie dauerte 5 
Stunden, die zweite 5½ Stunde, die dritte 6 Stunden, und er gewann sie 
sämmtlich 4. Die Vollkommenheit der Aufmerksamkeit besteht im Allgemeinen in 
ihrer Größe, d. h. sie ist um so vollkommner, je mehr sie zu leisten vermag. 
wobei sich indeß von selbst versteht, daß die Aufmerksamkeit, so wie jede endliche 
Kraft, beschränkt ist und bleibt. Die Größe und somit auch die Vollkommenheit 
der Aufmerksamkeit kann aber eine dreifache sein und sich entweder 1) auf den 
Umfang der Aufmerksamkeit, oder auch 2) auf die Ausdauer derselben 
oder 3) auf die Stärke derselben beziehen. Diese dreifache Vollkommenheit der 
Aufmerksamkeit kann man auch die extensive, die protenfive und die 
intensive Größe derselben nennen. Die extensive Größe, d. i. der Umfang 
oder die Ausgedehntheit der Aufmerksamkeit, besteht in der Fähigkeit, das 
bemerkende Vermögen in derselben Zeit, oder doch kurz nacheinander, auf meh¬ 
rere Gegenstände, oder Rücksichten derselben so hinzurichten, daß dennoch jeder 
einzelne gehörig betrachtet wird. Die ertensive Größe der Aufmerksamkeit ist vor¬ 
züglich eine Eigenschaft des systematischen Kopfes, welcher seine Aufmerk. 
samkeit auf sehr viele Vorstellungen zugleich, um ihre Aehnlichkeit Verschieden, 
heit und Verwandtschaft zu erkennen, verwenden muß. Die protensive Größe 
*) Deutsche Volkshalle 1851 Nr. 10. 
8* 
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
	        
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