M. VITRUVIUS P. BAUKUNST.
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ZWEYTES KAPITEL.
Verhältnifsmäfsiges Maafs nach Beschaffenheit der Orter.
Keine Sorge muss dem Baukünstler mehr am Herzen liegen, als den
Gebäuden in allen ihren Theilen das volkommenste Verhaltnils zu
geben. Wenn daher das allgemeine Ebenmaass festgesetzt, und das
Verhältniss der einzelnen Theile nach der Theorie ausgefunden ist;
s0 gilt es Scharfsinn, um auf die Beschaffenheit des Orts, auf den
Gebrauch und auf die Schönheit die gehörigen Rücksichten zu nehmen,
und durch Hinzusetzung oder Hinwegnehmung ein Temperament zu
treffen, damit, wenn hier und da etwas von dem Ebenmaalse hin¬
weg zu nehmen oder zu demselben hinzu zu fügen ist, dieses so
meisterhaft geschehe; das das Auge es nicht einmal gewahr werde.
Denn anders fallt ein Ding in der Nahe — ad manum — ins Gesicht,
anders wenn es hoch steht; wieder anders in einem verschlossenen
und anders in einem offenen Raume. Es bedarf daher grosser Beur¬
theilungskraft zu bestimmen, was am füglichsten zu thun seye; denn
auf das Urtheil des Gesichts ist sich nicht geradehin zu verlassen, da
es uns nicht selten täuscht. So scheinen z. B. auf den gemalten Sce¬
nen sowohl Säulen als Sparrenköpfe und Statüen vorzuspringen; da
doch jedes Gemälde ohnstreitig nur eine ebene Fläche ist. Desglei¬
chen scheinen dem Auge die Ruder an den Schiffen, ohnerachtet sie
gerade sind, im Wasser dennoch gebrochen; so weit sie aber aus dem
Wasser hervorragen, wie sie es auch wirklich sind, gerade; denn.
indem sie im Wasser hangen, senden sie, vermöge der Durchsich¬