Full text: Genelli, Hans Christian: Exegetische Briefe über des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst an August Rode

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ist, sondern dass er, wie er von der Dorischen ausdrücklich sagt, von beiden Ord¬ 
nungen einräumt, dass sie ihrer Hauptgestaltung nach schon vor dieser Epoche da 
waren; welches auch wohl seyn musste, damit der bildende Geist etwas hatte, 
woran er sich halten konnte, um nicht trunkener Weise sich von der architektoni¬ 
schen Bestimmung ab, in das Spiel der Allégorie zu verlieren. Es waren — nicht 
etwa blos Stützen, als Träger eines Gebälks, überhaupt — sondern wirkliche 
zwei, nach verschiedenen Normen gebildete Säulenarten in Uebung, die schon aus 
einer näher liegenden Analogie entsprungen waren. 
So sind augenscheinlich alle antike Kapitelle ursprünglich aus der Idee eines 
Gefässes entstanden; wozu die uralte Sitte Säulen, oder Gestelle mit Opfergefä¬ 
ssen an den Gräbern und vor den Tempeln zu errichten, die erste Veranlassung 
gegeben haben mochte. Das Dorische Kapitell ist von einer flachen Schale herge¬ 
nommen, das Korinthische von einem hohen glockenförmigen Gefäls oder Korb, 
und das Jonische von einem Krater mit Henkeln. Letzteres mag wohl in den al¬ 
lerfrühesten Zeiten schon, als man noch statt der festen Wände oft blolse Teppi¬ 
che in den Säulenweiten aufhing, gewählt worden seyn, um dieselben in den 
Henkeln befestigen zu können. Dadurch kamen die Henkel dazu am Kapitell Kral¬ 
len oder Hörner genannt zu werden. An dem ausgebildeten Jonischen Kapitell 
aber ist die Spur der ursprünglichen Henkel annoch an den Mittelgurten der Glo¬ 
ekenseite zu finden: und Vitruvs Vergleichung mit den Haarlocken soll nur gelten 
als Motiv, jener Jonier das Skablon der ursprünglichen Henkel auf die Fronte des 
Kapitells vergrössert hervorzurücken, wo sie ohne den Körper des Gefälses zu tref¬ 
fen, sich volutenartig in sich selbst krümmen mussten. Eine zweite Spur von dem 
Gefäss, das zum Urbild gedient, liegt in dem schalenförmigen Gliede, welches Vi¬ 
truy in der Dorischen Ordnung wenigstens ausdrücklich Echinos nennt, welchee 
in Griechischer Sprache eine Art Geläss, und zugleich auch den Boden an allen 
solchen Gefäfsen bezeichnet, die ihn gerundet haben. Auch ist die Verzierung 
mit Eiern, die eben an diesem Gliede angebracht wurde, wohl am frühesten grade 
am Boden der Gefässe üblich gewesen. Hier am Jonischen Kapitell nennt er diels 
Glied zwar — Cymatium — (ein Wellchen) gleichsam die in Wellen fallende Bin¬ 
de: weil er hier es eben mit einer solchen Binde verglichen haben will, und es 
bei der beträchtlichen Grösse der Voluten ohnehin eine ziemlich untergeordnete 
Stelle einnimmt. Der Hals des Gefässes aber hat sich in der Mittelfläche der Vo¬ 
luten verloren. 
Als eine Zierde der Stirn nennt Vitruy ausser dem Cymatium noch die En¬ 
carpi, die den Auslegern von jeher nicht wenig zu schaffen gemacht haben. In
	        
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