Full text: Genelli, Hans Christian: Exegetische Briefe über des Marcus Vitruvius Pollio Baukunst an August Rode

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mächtige und feste Gebälk der alten Ordnung beizubehalten, das auf seinen Säulen wie 
aufstämmigen und unerschütterlichen Trabanten ruhn sollte. So verfielen sie denn darauf 
des männlichen Fulses Spur auszumessen, und als sie fanden, dass solche das sech¬ 
ste Theil von der ganzen Höhe des Mannes betrug, so wandten sie dies auf ihre 
Säulen an, und gaben ihnen das sechste Theil ihrer Höhe zur untern Stärke; so 
dals die Dorische Säule von nun an der männlichen Gestalt Verhältnis, Festigkeit 
und Anstand in den heiligen Gebäuden darstellte. Danach unternahmen sie der 
Diana einen Tempel zu bauen, und, durch den ersten Erfolg angetrieben, gingen 
sie auf derselben Bahn weiter zur weiblichen Schlankheit über, und machten die 
Säulen zuerst ein Achtel ihrer Höhe dick, damit sie ein rankeres Ansehn hätten 
Dem Fuls legten sie die Reifen — spiræ 
(die Base) wie Sohlen unter; und 
am Kapitell rückten sie die Hörner auf die Vorderseite hervor, dass sie, wie ge¬ 
locktes Haupthaar an den Schläfen, rechts und links herabhingen; mit — Cyma¬ 
tium — und — Encarpos — aber um die Haare gelegt, (nicht statt der 
Haare) zierten sie die Stirn. Am Schaft hingegen zogen sie, wie Falten des 
weiblichen Gewandes, Riefen herunter. Also, setzt er hinzu, ist denn die Erfin¬ 
dung der Säulen nach ihren beiden Gattungen, eines Theils nach dem männlichen 
schlichten Anstand, und andern Theils nach der weiblichen Schlankheit, Anmuth 
und Sorgfalt ausgebildet worden s). 
Es ist Mode geworden über diese Stelle die Achsel zu zucken, als über eine 
einfältige und mülsige Poeterei. Ich aber bekenne unverhohlen, dass ich es nicht 
nur für ein wirkliches und treulich berichtetes historisches Factum halte, sondern 
auch noch recht schön in diesen Worten deutlich gemacht finde, wie die Allego¬ 
rie der Menschengestalt nie die architektonische Bestimmung verdrängte, wie der 
strenge Constructionsgeist bei dem ganzen Spiel immer frei blieb und das ihm zu¬ 
gebrachte ruhig zu seinem Homogenum verarbeitete: wie es denn auch seyn muss 
te, wenn anders was Vollendetes und Gediegenes herauskommen sollte. Ein blö¬ 
derer oder befangenerer Sinn verliert sich im Vorbild, und bringt dann auch ein 
solch Product heraus, das, ohne doch trotz aller Angstlichkeit die Allegorie zu er 
schöpfen, am Ende allen Charakter seiner Bestimmung eingebüsst hat und weder 
Fisch noch Mensch bleibt. Ich meine aber auch eben so deutlich in diesen Wor¬ 
ten Vitruvs zu finden, das hier gar von keiner ursprünglichen Erfindung die Rede 
*) Von dieser Stelle habe ich nur anführen wollen, was zu meinem Zweck gehört; und auch das habe ich 
nicht wörtlich übersetzt, sondern meine Auslegung zum Theil gleich hinein verwebt, von welcher die 
Gründe theils sogleich folgen werden, theils aber auch vielleicht auf einem andern Ort weitläuftiger aus 
einander gesetzt werden können.
	        
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